Benzin oder Diesel?

•21. August 2008 • Kommentare deaktiviert für Benzin oder Diesel?

Erstschlag

18:15. Ein dunkles Zimmer. Die einzige Lichtquelle ist das dunkelgraue Schimmern eines Laptopbildschirms. Der Bildschirm zeigt nur ein Fenster im Vollbildmodus – eine Konsole, grüne Schrift auf schwarzem Grund, der nichtssagende Titel „tail -f /var/log/pitdrone„. Nur ein Wort in der ersten Zeile: „Ready...„. In der Zeile darunter blinkt der Cursor. Er scheint geradezu zu lauern, genauso wie der Besitzer des Laptops, von dem nur die Umrisse zu sehen sind.

Auf einem Gerät neben dem Computer fängt eine rote LED an, schnell zu blinken. Auf dem Bildschirm erscheint „call detected„. Kaum eine Sekunde vergeht, bis der mysteriöse Benutzer des Laptops den Taster am Gerät betätigt. Die LED hört auf zu blinken und leuchtet konstant. Am Bildschirm erscheint „connected„. Aus dem Lautsprecher tönt: „…die folgende Frage: Drücken Sie auf Ihrem Telefon die Taste 1“ – eine Tastenkombination öffnet ein neues Konsolenfenster mit dem Titel „ctrace“, in welchem „Logging in to backdoor service at 10.1.5.42“ steht – „und teilen Sie die Lösung einem unserer Mitarbeiter mit.“ – im Fenster erscheint „connected, loading data“ – „Dieser Anruf ist für Sie natürlich kostenlos. Die Frage lautet: Was ist preiswerter – Benzin oder Diesel?“ – „data loaded. scanning“ – „Erraten? Dann drücken Sie“ – „scan finished. origin 069/802429“ – „auf ihrem Telefon jetzt die Taste 1. Viel Glück!„.

Ein weiterer Tastendruck am Gerät lässt eine grüne LED aufleuchten. Der Signalisierungton für „1“ geht über die Leitung. Eine weibliche Stimme meldet sich: „Guten Tag, Sie…“, wird aber sofort unterbrochen. Eine blecherne, synthetisierte Stimme spricht: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Flieht, solange ihr noch könnt.“ Beide LEDs schalten sich ab. Im Fenster im Hintergrund erscheint „call finished„.

Eine neue Tastenkombination lässt ein weiteres Fenster auftauchen. Es ist völlig leer. Der Besitzer tippt: „wir haben einen. 802429.

18:42. Vor einem unauffälligen, weißen Bürogebäude am Rande Frankfurts. Ein großer schwarzer unmarkierter Kleinbus hält vor dem Gebäude. Der Beifahrer hat ein Notebook auf seinen Knien. In seinem linken Ohr steckt ein Ohrhörer. Er richtet ein Laserabhörgerät nacheinander auf die einzelnen Fenster. Plötzlich hält er inne. Er nimmt ein Funkgerät und gibt durch: „Erster Stock links. Drumherum ist alles ruhig. Los.“

Die Seitentüre des Fahrzeugs wird aufgeschoben, während die Hecktüren auffliegen. Knapp ein dutzend Männer in Sturmhauben mit schwarzen beschusshemmenden taktischen Westen, Helmen, MP5s und der Aufschrift „POLIZEI“ auf dem Rücken springen raus. Je einer rennt sofort zu einem der Straßenenden, sperrt dieses mit rot-weißem Absperrband ab und bleibt dort stehen, die MP5 in der Hand. Der Beifahrer legt einen im Handschuhfach versteckten Schalter um, welcher den Störsender aktiviert. Im Umkreis von mehreren hundert Metern wird vorerst keiner mit seinem Handy telefonieren und die Sicherheit der Operation gefährden. Er geht mit einem Bolzenschneider zu einem im Erdgeschoß verlaufenden Kabelkanal und macht sich bereit. Der Rest stürmt in das Bürogebäude, in den ersten Stock. Die Männer drücken sich an die Wand links und recht neben der Eingangstür. Milchglasscheiben. Perfekt. Einer der Männer bringt einen Streifen an der Tür an und drückt sich dann ebenfalls an die Wand. Jemand gibt dem Beifahrer ein Zeichen, woraufhin dieser mit dem Bolzenschneider die Kabel durchschneidet und sich wieder in das Fahrzeug begibt. An der einen Hand zählt der Mann vor der Tür schnell von drei herab, bei null drückt er den Schalter in seiner anderen Hand. Die Tür verabschiedet sich in einem lauten Knall, Glassplitter fliegen durch die Luft.

Eine Sekunde später sind die Männer bereits im Flur des Büros. Auf beiden Seiten des Flurs befinden sich Großraumbüros – doch das ist für die Männer nichts Neues. Noch im Kleinbus studierten sie die Baupläne, planten die Fluchtwege, entschieden, wer was macht. In den Büros sind Unmengen an Computerarbeitsplätzen. Vor jedem saß bis vor kurzem eine Frau mit einem Headset auf dem Kopf, inzwischen sind jedoch alle aufgesprungen, einige rennen, die meisten stehen geschockt da. Je drei der bewaffneten Männer stürmen die beiden Büros und schreien: „Alle raus hier, hier ist eine Bombe, raus raus raus!“, wobei sie in Richtung des Notausgangs im hinteren Teil zeigen. Wer versucht, den Haupteingang zu benutzen, wird schroff zurückgestoßen: „hinten raus“. Während die Mitarbeiter sich an den Ausgängen drängeln, fragen die Bewaffneten immer wieder: „Wo ist Ihr Chef?“, bis genug Mitarbeiter auf ein kleines Büro zeigen, aus dem gerade ein Mann kommt.

Der Leiter des Callcenters findet sich schnell in der unangenehmen Lage, dass ein halbes Dutzend Maschinenpistolen auf ihn gerichtet sind. Zwei Männer schnappen ihn und drücken ihn an die Wand neben seinem Büro, während zwei andere das Büro stürmen, Akten, Datenträger und den Laptop des Chefs in mitgebrachte große schwarze Sporttaschen werfen. Mit einer Brechstange wird das niedrige 19-Zoll-Rack zügig geöffnet und auch die Festplatten des darin enthaltenen Servers werden herausgezogen und ebenfalls eingepackt. Einer der Männer zieht aus seiner Weste einen schweren Klotz und legt ihn auf den Aktenschrank. Ein weiterer Klotz landet oben auf dem Rack, und noch einen steckt er in den Server, dorthin, wo früher die Festplatten waren.

Unterdessen wird der Chef vor den Augen seiner Mitarbeiter auf den Boden gedrückt und verhört. Da er sich zunächst weigert, zu verraten, für wen er arbeitet, nicken sich zwei der Männer zu, einer hält dem Chef eine Plastikfolie über das Gesicht, während der andere Wasser aus einer Feldflasche darauf gießt. Der Chef prustet, hustet, und gibt sich plötzlich sehr kooperativ und verrät den unwillkommenen Besuchern alles, was sie wissen wollen. Einer der Vermummten hält ihm dabei einen MP3-Player vor dem Mund, um nicht mitschreiben zu müssen und trotzdem das Gesagte später wörtlich zu haben.

Die Mitarbeiter haben sich inzwischen durch den Ausgang gezwängt und rennen vom Gebäude weg. Der Vermummte mit dem MP3-Player hat offenbar genug gehört, er beendet die Aufnahme, packt das Gerät weg und entsichert seine MP5. Er nickt den beiden anderen, die den Chef halten, zu, woraufhin diese ihn loslassen. Er flüstert dem auf dem Boden liegenden zu: „Renn um dein Leben“ und richtet die Waffe auf ihn. Der schockierte Callcenter-Leiter rennt zur Tür des Notausgangs. Noch bevor er seinen ersten Schritt auf die Feuertreppe setzt, feuern einige der Männer je eine Salve aus ihren Waffen auf ihn. Blut spritzt, er fällt auf die metallene Treppe, schlägt hart auf, überschlägt sich. Die Mitarbeiter bleiben stehen und schauen zurück. Sie sehen, wie einer der Männer in Polizeiuniform in die Tür tritt, seine Waffe auf ihren Vorgesetzten richtet und den Abzug durchdrückt, bis das Magazin leer ist und die Kugeln den Toten völlig zerfetzt haben. Die Hülsen fallen in einen an der Waffe befestigten Auffangsack. Der Mann verschwindet nach innen, vorbei an einem anderen Vermummten, der eine Kamera hält und das ganze Geschehen gefilmt hat.

Im Flur treffen sich die Männer und nicken sich gegenseitig kurz zu. Jeder hat seinen Job erledigt, einige Festplatten aus den Großraumbüros sind ebenfalls eingepackt und auch in den Büros liegen die Klötze auf Computern, Tischen und Schränken. So schnell sie gekommen sind, verschwinden die Männer wieder im Wagen. Die zwei, die die Straße abgesperrt hatten, packen das Absperrband zusammen und rennen zum Kleinbus, wo die anderen bereits warten. Während der Wagen mit offenen Hecktüren abfährt, zünden die Thermitpackungen im Büro. Mit 2000° Celsius ergießt sich flüssiges Eisen über die Ausrüstung. Der Mann mit der Kamera filmt das Inferno noch kurz aus der Hecktür, klappt die Kamera dann zusammen und schließt die Türflügel. Innerhalb von weniger als einer halben Minute schlagen die Flammen aus den Fenstern des verlassenen Bürogebäudes. Bis die Feuerwehr eintrifft, wird nicht mehr viel übrig sein. Das gilt natürlich auch für eventuelle Spuren, auch wenn sie eigentlich gar keine hinterlassen haben sollten.

Ermittlungen

Die Mitarbeiter stehen unter Schock. Nur wenige kommen daher auf die Idee, dass normale Polizisten bei solchen Fällen normalerweise in größeren Zahlen auftauchen und keine Verdächtigen erschießen. Doch genauso wie die wenigen Schaulustigen, die noch in dem um diese Zeit sehr leeren Gewerbegebiet waren, haben sie keinen Handyempfang. Die Brandmeldeanlage versucht vergeblich, den Brand weiterzumelden – sie hat zwar eine eigene ISDN-Leitung, diese verlief aber ebenfalls im durchtrennten Kabelkanal. Die Sprinkleranlage kann gegen das riesige, plötzlich im Callcenter wütende Feuer nichts mehr ausrichten. Die Brandschutztüren fallen zu. Der Hausmeister eines benachbarten Bürogebäudes, der noch spät einige Einstellungen an der Klimaanlage vornehmen musste, ruft schließlich den Notruf. Gleichzeitig merken einige der Mitarbeiter, dass ihre Handies wieder Empfang haben.

Von einem halben Dutzend gleichzeitiger Notrufe alarmiert, trifft sechs Minuten später schon die Polizei ein und bringt Schaulustige und Mitarbeiter erst einmal auf eine sichere Entfernung. Bis die Feuerwehr weitere zwei Minuten später eintrifft, droht das Feuer bereits auf andere Büros überzugreifen, die Flammen schlagen meterhoch aus den Fenstern. Die Feuerwehr bringt den Brand zwar unter Kontrolle und dank wenig brennbarem Material im Callcenter, Stahlbeton, Brandschutztüren und Sprinkleranlage können größere Schäden an anderen Büros verhindert werden, doch vom Callcenter selbst ist nicht mehr viel übrig.

Die Ermittlungen erweisen sich als schwierig. Die Angreifer waren gut ausgerüstet, hatten gefälschte Polizeiuniformen, trugen Masken, und die Zeugen geben äußerst ungenaue Beschreibungen ab. Sie wissen alle nur, dass plötzlich mit bewaffnete, Sturmhauben tragende Menschen durch den Vordereingang in das Büro gestürmt, sie durch den Hinterausgang aus dem Gebäude gescheucht, den Leiter des Callcenters erschossen und offenbar alles niedergebrannt haben. Was sie wollten, sonst noch im Inneren taten, oder woher sie kamen – all das hat niemand gesehen. Nur wenige erinnern sich noch, dass die Straße mit dem Haupteingang abgesperrt war und ein grimmiger, bewaffneter Mann in Polizeiuniform jeden verscheuchte, der sich näherte, und zwar noch bevor jemand einen Blick auf die Straße werfen konnte. Das Thermit wird natürlich von den Brandursachenermittler schnell festgestellt, die fehlenden Akten und Datenträger jedoch fallen aufgrund der Verwüstung niemandem auf – der Server sowie die betroffenen Rechner sind größtenteils nicht mehr als solche zu erkennen, und die Ermittler sind froh, dass sie feststellen können, dass im Büro ein Aktenschrank stand. Über das Motiv der Täter herrscht völlige Unklarheit.

Dann erinnert sich ein Mitarbeiter an die seltsame Drohung, die eine halbe Stunde vor dem Anschlag einging. Beleidigungen und Drohungen aller Art seien in dem Beruf etwa alltägliches, berichtet der Mitarbeiter. Doch diese sei etwas anders gewesen – eine Computerstimme ist bei normalen Drohungen nicht üblich. Und dann so direkt vor dem Anschlag. Aber selbst diese Information bringt die Beamten nicht viel weiter – zu dem Zeitpunkt wurden hunderte Gespräche geführt, und die Aufzeichnungen, wer welches Gespräch zugeteilt bekam, lagerten auf dem Server, der als geschmolzenes Ungetüm auf dem Boden liegt und dessen Festplatte die Angreifer gerade irgendwo in einem dunkelen Keller auf verwertbare Informationen prüfen.

Der Verdacht fällt natürlich zuerst auf die Konkurrenz, doch diese Spur führt nicht zum Ziel. Erst ein im Internet auftauchendes Video bringt die Ermitter auf die Idee, dass andere Motive dahinter stecken können. Das Video beginnt mit einem schwarzen Bildschirm. Die Aufzeichnung des Gesprächs läuft im Hintergrund. Danach ist zu sehen, wie die vermummten Männer die Tür sprengen, das Callcenter stürmen und alle hinausjagen. Schnitt, der rennende Vorgesetzte wird von den Kugeln getoffen, fällt, die Kamera verfolgt seinen Sturz, er schlägt auf, am Rand des Videos erscheint Mündungsfeuer, als er von den restlichen Kugeln regelrecht durchsiebt wird. Schnitt, die Kamera bewegt sich vom Gebäude weg, das Thermit zündet, aus den Fenstern dringt der grelle Schein des brennenden Thermits und geschmolzenen Eisens. Der Bildschirm wird langsam schwarz. Die Computerstimme sagt: „Lasst euch das eine Warnung sein. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Nächstes Mal wird es keine Gnade geben.“

Das Video enthält keine Hinweise, die der Polizei nicht schon von den Zeugenaussagen und den nach dem Brand übrig gebliebenen Spuren hätte. Die Spur des Uploaders verliert sich in einem Netz aus trojanerverseuchten Rechnern in China. Die Beamten kommen noch nicht einmal bis zum TOR-Exit-Node, den der Uploader benutzt hat, geschweige denn zum mit gestohlenen Zugangsdaten benutzten T-Mobile-WLAN-Hotspot am Hauptbahnhof in Frankfurt. Dafür erleben Callcenter, die mit ihren Anrufen zufällige Bürger belästigen, einen starken Anstieg an Drohungen: Die Drohung aus dem Video kursiert als MP3-Datei und wird bei unerwünschten Anrufen immer wieder von wildfremden Menschen vorgespielt. Die Täter steigen im Internet zu Helden auf, vor allem, weil niemand zu Schaden gekommen ist außer dem als Sklaventreiber bekannten Callcenterbetreiber, dem es, zumindest den meisten Kommentaren unter den Videos zufolge, völlig recht geschieht. Die Drohung am Schluss des Videos lässt die Polizei erneute Anschläge befürchten. Die Ermittlungen führen jedoch zu nichts und werden duch die vielen Trittbrettfahrer stark behindert. Auch das Motiv ist immer noch nicht geklärt – die Vorgehensweise ist professionell und brutal, aber was die Täter zu dieser Tat gebracht hat und wen sie vor welchem Verhalten warnen, ist völlig unbekannt.

Wiederholungstäter

Einige Tage später. Wieder im dunklen Zimmer. Der gleiche Bildschirm. Wieder ein Anruf. Gleiches Vorgehen, gleicher Text, wieder eine Nummer aus Frankfurt. Nur die Drohung ist diesmal anders: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Flieht, solange ihr noch könnt. Es wird keine Gnade geben.“ Der Callcenter-Mitarbeiter am anderen Ende der Leitung ist sichtlich genervt und erhält eine solche Drohung wohl nicht zum ersten Mal. Man hört noch ein „Ja, ja“ bevor die Verbindung getrennt wird. Im Chatfenster erscheint ein „sie haben nicht gelernt.„, nur gefolgt von der Telefonnummer des nächsten Ziels.

Wieder hält der Kleinbus vor einem Bürogebäude. Wieder positioniert sich jemand mit einem Bolzenschneider an der Leitung, während ein Streifen Sprengstoff an der Tür im zweiten Stock angebracht wird. Doch eine Sache ist anders: Der Beifahrer wirft ein großes, schweres Päckchen in die große Mülltonne neben dem anderen Gebäude und setzt sich dann erst wieder in den Wagen. Die Tür wird gesprengt. Die Männer stürmen hinein, doch auch hier gibt es einen Unterschied: Sie sagen kein Wort, die Angestellten rennen auch so. Die Männer eröffnen das Feuer auf sie. Sie schnappen sich einen der Angestellten und fragen ihn nach seinem Vorgesetzten. Auch wenn er zunächst nicht sehr kooperativ ist, weil er seinen Chef schützen möchte, überzeugt ihn der wenige Zentimeter vor seinem Gesicht schwebende Lauf einer MP5 doch, auf die entsprechende Tür zu deuten – die Schüsse auf die restlichen Angestellten lassen ihn nicht an der Entschlossenheit der Angreifer zweifeln, und der Chef, der die Angestellten immer mies behandelt, unter Druck gesetzt ihren knappen Lohn spät oder nicht gezahlt hat, ist dem sowieso schon gekündigten Mitarbeiter sein Leben doch nicht wert.

Der Leiter dieses Callcenters ist schlauer und hat die Tür abgeschlossen. So etwas hatten die Angreifer schon befürchtet. Ein Wink, und ein Vermummter kommt von hinten mit einer militärischen Schrotflinte, die das Öffnen der Tür signifikant beschleunigt. Das Fenster ist offen, und der Chef versucht gerade, über die Feuerleiter zu fliehen. Eine Salve aus der MP5 verhindert diesen Plan. Der Flüchtige ist tot, bevor er aus vier Metern Höhe hart auf den Pflastersteinen aufschlägt. Auch er bekommt noch den Rest des Magazins ab, bevor die Angreifer die Leiche liegen lassen. Die Angestellten, die fliehen konnten, werden nicht verfolgt. Auch die Computer und Akten lassen die Angreifer diesmal links liegen. Thermitpäckchen landen im Callcenter, die Angreifer verziehen sich wieder in ihren Bus und fahren ab, das Callcenter fängt an zu brennen.

Doch diesmal funktionieren die Handies selbst nach Abfahrt des Busses nicht. Obwohl die Brandmeldezentrale in diesem Gebäude ein GSM-Fallback hat, kann sie keinen Notruf absetzen. Dieses Callcenter ist noch abgelegener, und in den umliegenden Gebäuden ist niemand mehr. Einer der Angestellten rennt zum Auto und fährt los, Hilfe zu holen, da einige Kollegen schwer verletzt sind. Doch auch einen Kilometer weiter funktionieren die Handies noch nicht. Er hämmert verzweifelt an eine Tür, doch die Bewohner des Hauses lassen ihn nicht herein. Sie rufen zwar die Polizei, aber nur, um den vermeintlichen Trickdieb beseitigen zu lassen.

Als mehrere Minuten später die Mülltonne plötzlich in einem riesigen Feuerball verschwindet und flüssiges Eisen in alle Richtungen fließt und spritzt, rennen die Angestellten panisch auseinander. Einer wird von einem Spritzer geschmolzenen Eisens getroffen und bricht zusammen, zwei anderen rennen tapfer vor und schleifen ihn aus der Gefahrenzone. Einige bemerken kurz danach, dass ihre Handies wieder gehen und setzen einen Notruf ab.

Die Feuerwehr trifft zeitgleich mit der Polizei zehn Minuten später ein. Sie ist jedoch zunächst damit beschäftigt, das Gebäude neben der Mülltonne zu löschen, welches in Brand geraten ist. Die zum Glück noch nicht vermietete, aber bereits mit Büromöbeln ausgestattete Etage über dem Callcenter sowie das Treppenhaus brennen bereits, als die Feuerwehr endlich anfängt, das Gebäude mit dem Callcenter zu löschen. Das Löschwasser beschädigt die unter dem Callcenter gelegenen, bereits vermieteten Büros. Der Sachschaden ist zwar hoch, aber es hätte noch viel schlimmer kommen können.

Weitreichende Folgen

Auffällig ist nur, dass beide Callcenter ausschließlich Werbeanrufe für einen bestimmten Auftraggeber abwickelten. Dieser Auftraggeber hat nun ein Problem: die ersten Mitarbeiter anderer für ihn arbeitender Outbound-Callcenter kündigen, neue Mitarbeiter sind erst zu finden, als die Betreiber die Löhne (und damit auch die Preise für diejenigen, die die Dienste der Callcenter in Anspruch nehmen) signifikant erhöhen. Dieser Effekt ist vermutlich zum großen Teil dem wieder kurz nach dem Anschlag erschienenen Video zu verdanken, welches von zahlreichen großen Medien verbreitet wird. Die Aufzeichnung ist nahezu genau so gemacht wie die letzte, nur endet sie mit dem Hinweis: „Wer nicht hören will, muss fühlen. Hört auf. Alle. Werdet nicht zum nächsten Beispiel.“

In Internetforen entbrennen wilde Diskussionen. Während die ehmaligen Helden nun von vielen aufgrund der grausamen Morde plötzlich verachtet werden, gibt es auch Kommentare, die das Vorgehen gutheißen. Die Polizei fängt an, das Unglaubliche in Erwägung zu ziehen, worüber im Internet längst spekuliert wird: Jemand geht so weit, nur um diese Werbeanrufe zu verhindern. Sicher ist das nicht.

Die ersten Callcenter werden nach Anrufen durch Trittbrettfahrer geräumt, doch nichts passiert. Ein schwerverletzter Mitarbeiter erwacht aus dem künstlichen Koma. Er reicht seine Aussage schriftlich bei der Polizei ein. Er erinnert sich, dass der Drohanruf anders war als die anderen. Der Wortlaut war anders. Die Trittbrettfahrer-Anrufe waren einfach nur Teilstücke des ersten Videos – „Es wird keine Gnade geben“ kam dort jedoch nicht vor. Auch wenn natürlich die Worte zusammengeschnitten sein könnten, spricht vor allem der kurz darauf erfolgte Anschlag dafür, dass dieser Anruf wieder echt war. Als die Polizisten dem Opfer weitere Fragen stellen wollen, finden sie sein Bett leer vor. Auf die Frage nach dem Verbleib antwortet ein am Stock gehender Arzt schnaubend: „Der wurde verlegt. Fragen Sie unten, Abteilung 02b.“ Die Beamten wundern sich etwas über den sehr sarkastischen Tonfall des Arztes, doch ein Schild im Aufzug erklärt alles – es lautet „1. Untergeschoss – Abteilung 02b: Pathologie„.

Zwei Beamte sitzen in einem fensterlosen Raum im Kellergeschoss an einem Computer und arbeiten daran, die Täter zurückzuverfolgen. Diesmal waren sie unvorsichtig. Das Video enthält verräterische Metadaten, welche gerade von den Technikern der Videoplattform per Fax hereinkommen. Die Beamten sammeln weitere Hinweise, notieren auffällige Zusammenhänge, es sieht so aus, als ob sie auf einer heißen Spur sind. Ein Anruf beim Betreiber eines Hotspot-Netzwerks, und einige IP-Adressen werden auf einem Zettel notiert. Einer der Beamten holt eine Aktenmappe, locht sämtliche Notizen und heftet sie fein säuberlich ab.

Plötzlich klingelt das Telefon. Ein Druck auf die Lautsprechertaste nimmt das Gespräch an und legt es auf den Lautsprecher. Der Beamte will sich gerade melden, als ihm die Stimme am anderen Ende die Zornesröte ins Gesicht treibt. Es ist die automatisierte Werbeansage, mit der die ganze Sache überhaupt begann. Der andere Beamte hört die Ansage natürlich auch, und schüttelt den Kopf. Die beiden schauen sich an. „Denkst du auch, was ich denke“, sagt er, und schaut in eine Ecke des Raums. Der andere Beamte dreht sich um, schaut ebenfalls in die Ecke, sagt zustimmend „m-hm“, und nickt. Die beiden Beamten gehen gemeinsam zum in der Ecke stehenden Aktenvernichter, einer nimmt die Blätter aus der Aktenmappe, der andere stopft sie in den Schredder. Zum Schluss reißt er die Mappe selbst entzwei, entfernt das Blech und stopft die Pappteile hinterher. Der andere nimmt unterdessen das Telefon, drückt die mit „Chef“ handbeschriftete Kurzwahltaste und teilt seinem Vorgesetzten mit, dass wie erwartet die Auswertung des Videos keine Hinweise ergeben hätte. Die Polizei tappt weiter im Dunkeln.

Kopf ab

Als die Beamten die Leiter der Marketingabteilung der Firma, die die Callcenter beauftragt hat, befragen wollen, stehen sie vor einem Problem: Das gesamte Führungteam der Marketingabteilung ist vor 15 Tagen zu einer ganz besonderen Teambuilding-Maßnahme aufgebrochen: einem zweiwöchigen Survialtrip. Die Manager sind weder per E-Mail noch per Telefon zu erreichen – sogar der genaue Ort ist unbekannt, da sie ungestört sein wollen, um „ohne den alltäglichen Stress der Arbeit in sich zu gehen und das Miteinander im Team zu verbessern“. In den Unterlagen im Büro der obersten Marketingleiterin finden sie schließlich eine Buchungsbestätigung. Das Papier hat eine kaum sichtbare Rille. Die Experten finden heraus, dass diese wohl vom Dokumenteneinzug des Faxgeräts stammt. Wann und wohin das Dokument gefaxt wurde, können sie jedoch nicht in Erfahrung bringen.

Die Teambuilding-Agentur betont zwar immer wieder, dass sie nicht weiß, wohin das Team aufgebrochen ist. Als die Beamten jedoch anfangen, das Büro auf den Kopf zu stellen – natürlich ohne Durchsuchungsbeschluss, Gefahr im Verzug – erinnert sich der Besitzer der Agentur plötzlich doch. Nur ist ein verlassener Strand in Kuba leider nicht gerade der beste Ort, wenn es darum geht, dass deutsche Beamte dort irgendwelche Vermissten suchen wollen.

Noch bevor die langsamen Räder im Auswärtigen Amt sich in Bewegung setzen, um Kuba (natürlich im Gegenzug für Wirtschaftshilfe) um Kooperation zu ersuchen, löst sich das Rätsel um den Aufenthaltsort durch ein bei einem umstrittenen Videoportal hochgeladenes Video, welches sich zunächst nur in eher zwielichtigen Webforen verbreitet, bis es schließlich auch die Augen der Beamten erreicht. Obwohl die Polizei sich entscheidet, den Angehörigen der Marketingchefs nur einige wenige Standbilder zu zeigen, bekommen sie von den schockierten Familien eine traurige, aber die Befürchtung bestätigende Antwort: Die im Video gezeigten Männer und Frauen sind tatsächlich die Vermissten. Auch wenn die großen Medien das Video aus Jugendschutzgründen nicht einmal auszugsweise senden, verbreitet es sich über das Internet rasend, und trotz der gezeigten Brutalität gibt es auch hier wieder Stimmen, die die Täter preisen und der Meinung sind, die Opfer hätten es voll und ganz verdient und es wäre an der Zeit, dass so etwas passieren würde. Diese sind jedoch inzwischen aufgrund der Grausamkeit, mit der die Mitarbeiter der durchaus umstrittenen Firma ermordet wurden, in der Minderheit. Die Angelegenheit wird zum Gesprächsthema Nummer eins in Deutschland und auch in anderen Ländern tauchen erste Berichte auf. Das Video wird von Experten geprüft und für echt befunden.

Eine Sache ist an diesem Video allerdings ungewöhnlich – es enthält keine Tonspur, keine Warnung, keine Erklärung, keinen Bekennertext. Gerade als die Polizei und andere Callcenter anfangen zu hoffen, dass damit die Anschläge nun ein Ende haben, wird ein Bekennerschreiben nachgeliefert. Als Beweis, dass das Schreiben echt ist, liegt eine hochauflösende Kopie des Videos auf CD-R bei. Kopien des Schreibens, ebenfalls mit einer CD, gehen an zahlreiche Boulevardblätter. Die Polizei kann nicht verhindern, dass ein großes Blatt am nächsten Morgen titelt: „Der Schrecken der Quälgeister – mysteriöse Metzel-Gruppe stellt Nerv-Anrufer ruhig“. Die Website der Zeitung bricht unter der Last zusammen, als zehntausende sensationsgeile Menschen gleichzeitig versuchen, dass Full-HD-Hinrichtungsvideo dort herunterzuladen.

Beunruhigend finden vor allem die Polizeibeamten jedoch, dass das Bekennerschreiben sehr direkt weitere Anschläge verspricht: „Das war erst der Anfang. Erst mit der Ruhe werden auch wir ruhen.“ Inzwischen ist offensichtich, dass sich die Kampange gegen Outbound-Callcenter richtet. Reihenweise laufen ihnen sowohl Mitarbeiter als auch Auftraggeber weg. Die immer häufiger werdenden Trittbrettfahrer-Anrufe führen regelmäßig dazu, dass Mitarbeiter auspringen und panisch schreiend wegrennen, oft mit der halben Belegschaft im Schlepptau. Die Nutzer benachbarter Büros drängen Vermieter, die Callcenter schnellstmöglich rauszuwerfen, und Feuerversicherungen fordern zusätzliche Prämien, wenn im versicherten Gebäude ein Callcenter betrieben wird. Vermieter kündigen reihenweise Verträge mit Outbound-Callcentern, oder steigern zumindest die Mieten exorbitant. Neue Mietverträge für Outbound-Callcenter sind nicht zu bezahlbaren Preisen zu bekommen. Die Werbeanrufe nehmen signifikant ab, die Frage „Benzin oder Diesel?“ klingt nie wieder ungefragt aus einem Telefon.

Letzte Vorbereitungen

Wieder im dunklen Zimmer, am Laptop. Etwas ist anders – auf dem Bildschirm ist noch ein weiteres Fenster zu sehen, in welchem eine amerikanische Nachrichtensendung läuft. Die Vorfälle in Deutschland werden nur als Einleitung erwähnt, der eigentliche Beitrag handelt davon, dass in einem US-Callcenter mehrere Gewehrgeschosse vom Kaliber .50 eingeschlagen sind. Ein Mitarbeiter ist auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben, zwei weitere in Lebensgefahr. Das Callcenter hat bis auf weiteres den Betrieb eingestellt. Dieser Ausschnitt aus der Nachrichtensendung erfüllt sich großer Beliebtheit im Internet, und auch hier scheiden sich die Geister. Während die einen von Terrorismus sprechen, rechtfertigen und loben andere den Anschlag als eine Heldentat und finden, dass so etwas öfter passieren muss.

Der Videogenuss wird jedoch wieder von einem eingehenden Anruf unterbrochen. Eine Tastenkombination lässt das Videofenster verschwinden. Diesmal jedoch ertönt nach der Annahme des Gesprächs eine andere Ansage: „Sie haben gewonnen! Sie sind der Gewinner einer luxuriösen Kreuzfahrt zu einem Ziel Ihrer Wahl. Um mehr zu erfahren und Ihren Gewinn zu Beanspruchen, melden Sie sich bitte bei unserer Hotline. Die Nummer lautet: Null Neun, Null Null“ – mit ruhiger Hand schreibt der geheimnisvolle Mann die Nummer mit. Als die Computerstimme die Nummer wiederholt, vergewissert er sich, ob alles stimmt. Dann würgt er den Anruf ab. Das Chatprogramm wird von einer Tastenkombination zum Leben erweckt. „volltreffer. rückruf-spammer. einfach ideal.“ geht über die verschlüsselte Verbindung, gefolgt von der Nummer. Kurz darauf kommt zurück: „ideal gelegen. besser gehts nicht. den nehmen wir.

In einem kleinen, abgelegenen Dorf. Es ist dunkel. Der Kleinbus hält an einem der bloß drei Telefon-Verteilerkästen, über welche dieses Dorf an die Außenwelt angebunden ist. Die Schlösser sind schnell geöffnet, ein kurzer Schlag auf den Schlagschlüssel genügt. Thermitpackungen wandern in den Kasten. Die Zünder haben besonders lange Antennen. Der Kasten wird wieder geschlossen, die zwei Mann steigen in den Kleinbus, welcher ruhig und leise abfährt. Gleiches Spiel an den beiden anderen Kästen: Kleinbus hält an, Seitentür auf, zwei Mann zum Kasten, Tür auf, Thermit rein, Tür zu, zurück in den Kleinbus, Seitentür wieder zu, Abfahrt.

In der gleichen Nacht, nur später. Das Team schleicht sich zu Fuß ins Dorf. Der Bus wäre dort zu auffällig. Zwei dunkel gekleidete Männer sind es zwar auch, aber die machen wenigstens weniger Krach. Ärger könnte es trotzdem geben. Mitten in der Nacht auf einen Kirchturm zu klettern und die Ladungen oben anzubringen könnte auffallen, und das würde die ganze Operation gefährden. Außerdem sollen die Kollateralschäden bei völlig Unbeteiligten nicht allzu schlimm werden. Zum Glück für das geheimnisvolle Duo findet sich unterwegs eine Lösung: Das Leitungsbündel zur Kirche, über das auch die Mobilfunkantennen auf dem Dach versorgt wurden, läuft durch einen separaten Kanal, und dieser hat einen unterirdischen Verstärkerknoten, der praktischerweise auch noch durch eine Wartungsklappe leicht erreichbar ist. Nach kurzer Rücksprache per Funk wird der Plan kurzerhand geändert. Der völlig ungesicherte Deckel ist trotz seines Gewichts schnell geöffnet. Einen halben Meter tiefer liegt noch eine Klappe, welche mit einem Vorhängeschloss gesichert ist. Auch wenn selbiges natürlich kein ernstzunehmendes Hindernis darstellt, gibt es für das Team keinen Grund, sich auch nur eine Sekunde länger als nötig verdächtig an einem offenen Deckel mitten auf der Straße zu schaffen zu machen. Stattdessen werden einfach zwei zusätzliche Thermitpakete dazugelegt. Die Stahlplatte mag noch so dick sein – länger als eine halbe Sekunde wird sie der Hitze nicht widerstehen können. Leise und vorsichtig ziehen die beiden Männer den Deckel zu und schlendern gemütlich durch die Straße.

Der Blitzableiter der Kirche ist mit dem kleinen Bolzenschneider schnell durchtrennt. Ein unauffälliger Kasten wird an die großzügigigerweise vorhandene Außensteckdose angeschlossen und neben dem Blitzableiter platziert. Das Kabel, welches das obere Teilstück mit dem Kasten verbindet, sieht für Laien aus, als ob es dahingehören würde. Alles ist dunkel und still. Das ganze Dorf schläft. Nur aus einem Kellerfenster dringt ein gedämpftes Licht. Ein kurzer Blick durch das Fernglas zeigt jedoch, dass der sich darin befindliche Schüler keine große Gefahr darstellt. Statt sich um die echten Bombenleger auf der Straße zu kümmern, ist er damit beschäftigt, zweien virtuellen Terroristen am Bildschirm Kopfschüsse mit dem Scharfschützengewehr zu verpassen. Die Männer erreichen den Kleinbus, und lange bevor im Dorf jemand aufwacht, verschwindet der Bus in die Dunkelheit.

Der Mobilfunkmast auf dem Kirchturm ist für die Versorgung der ganzen Umgebung verantwortlich. Das nächste brauchbare Signal kann man erst ungefähr 15 Kilometer weiter empfangen.

Todesstoß

In allen Notrufzentralen treffen inzwischen regelmäßig Anrufe ein, in denen von einem schwarzen Kleinbus berichtet wird. Die Beamten sind genervt. Jedes mal müssen sie sich beim eifrigen Anrufer für seine Aufmerksamkeit bedanken, obwohl sie ihm danach erklären dürfen, dass es in Deutschland einfach zu viele schwarze Kleinbusse gibt, um bei jedem am Straßenrand stehenden Fahrzeug ein mobiles Einsatzkommando loszuschicken. Der besorgte Bürger des Dorfes, der beim Anblick des schwarzen Kleinbusses sofort den Notruf gewählt hat, wird ebenso abgewimmelt, obwohl er auf das Vorhandensein eines Callcenters hinweist.

Auf dem Weg zum Dorf, zwei Kilometer vor dem Ortsschild, hat der Kleinbus einen kleinen, unauffälligen Kasten neben die Straße gestellt. Auf dieser Straße wird bald auch die Feuerwehr kommen, denn das Dorf hat keine eigene. Die nächstgelegene Feuerwache ist die im Nachbardorf. Die Straße verläuft zwar durch das Dorf hindurch weiter, doch in der anderen Richtung liegt die nächste Feuerwache sehr weit entfernt.

Kurz bevor der Bus vor dem Callcenter ankommt, nimmt im Inneren jemand ein nagelneues Billighandy aus der Originalverpackung, bricht eine frische SIM-Karte aus der Hülle, und schließt ein Headsetkabel an, dessen anderes Ende in einem MP3-Player steckt. Er bringt das Handy in Betrieb und wählt die Nummer, die in der Ansasge genannt wurde. Der Bus nähert sich langsam dem Callcenter. Sobald sich der Mitarbeiter der Gewinnhotline meldet, drückt ein behandschuhter Finger die Play-Taste des MP3-Players. Die unmissverständliche Drohung geht über die Leitung: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Es wird keine Gnade geben. Tschüß!“

Statt jedoch wie ein normaler Mensch auf die rote „Auflegen“-Taste zu drücken, beendet der Mann, der das Handy bedient, das Gespräch mit einem Druck auf eine andere rote Taste – die des Funkzünders. Innerhalb weniger als einer halben Sekunde bricht die Verbindung zusammen. Das Handy zeigt vollen Empfang. Verwundert wählt der Täter 112, bekommt jedoch umgehend ein dreifaches Piepsen, welches anzeigt, dass die Basisstation die Verbindung nicht weiterleiten kann. Wunderbar, denkt er sich. Hätten sie einfach nur den Sender vom Dach geholt, würden sich die Handies sobald möglich in die Nachbarzellen einbuchen. So aber werden sie sich so lange mit dem von der Außenwelt abgeschnittenen Masten verbinden, bis die Nachbarmasten deutlich stärker sind. Damit ist die handyfreie Zone nochmals um einige Kilometer gewachsen.

Der Bus hält vor dem Callcenter am Rande des Dorfes an, Bewaffnete springen hinaus. Das Treppenhaus des Bürogebäudes ist von außen durch eine breite Glasfront einsehbar. Einige Mitarbeiter rennen hinaus. Noch während sie zum Gebäude rennen, feuern die Vermummten durch die Scheiben auf die Mitarbeiter. Einige fallen, eine Frau wirft sich auf den Boden, ein Mann bleibt wie angewurzelt stehen, der Rest rennt zurück. Zwei Männer stürmen die Feuertreppe auf der Seite hoch. Die Notausgangstür wird von innen geöffnet, doch sofort wieder zugeschlagen und verriegelt, als die Kugeln einschlagen. Zwei weitere Männer schleppen ein kleines Schweißgerät die Treppe hoch, einer der inzwischen oben angekommen rammt einen Keil unter die Notausgangstür, um sie geschlossen zu halten – auch wenn das wohl nicht nötig wäre: Die Mitarbeiter scheinen durch die Kugeln davon überzeugt worden zu sein, dass sie diese Tür gerne in geschlossenem Zustand hätten. Zumindest deuten die Geräusche und das Geschrei innen darauf hin, dass die Tür gerade verbarrikadiert wird. Mit einem Grinsen unter der Sturmhaube nimmt der andere den Ruf „los, mach ordentlich fest, damit sie nicht reinkommen“ von innen wahr und mit den gemurmelten Worten „na, dann wollen wir denen mal helfen“ steckt er die MP5 weg und packt die Schweißelektroden aus.

Die Gruppe im Haupttreppenhaus ist inzwischen oben angekommen. Die beiden Mitarbeiter, die im Flur geblieben waren, liegen mit Kopfschüssen tot auf dem Boden. Die Mitarbeiter im Büro geraden in Panik. Sie merken, dass diesmal etwas anders ist. Der Frau, die den Drohanruf entgegengenommen hat, fällt ein, dass diesmal die Aufforderung zu fliehen fehlte, es gab nur die Ankündigung, dass es keine Gnade geben würde. Sie bricht zusammen. Ein Chaos entsteht. Die Mitarbeiter, die den Notausgang verbarrikadiert haben, werden von den anderen Beiseite gerissen, die Warnung, dass auf der anderen Seite auch nur weitere Bewaffnete warten, kommt bei ihnen aufgrund ihrer Panik gar nicht an.

Der Dieselmotor des Schweißgeräts wird gerade angeworfen, als die Mitarbeiter innen beginnen, die Barrikade wieder einzureißen. Bevor der Keil die ersten Schläge gegen die Tür abfangen muss, sitzt der oberste Schweißpunkt schon, weitere folgen kurz darauf. Als die verzweifelnden Mitarbeiter in Panik mit vereinten Kräften gegen die Tür rennen, haben sie bereits keine Chance. Ein Elefant könnte die Tür vielleicht einrennen – nur haben die Mitarbeiter ein solches Tier derzeit nicht zur Hand.

Brandsätze aller Art fliegen durch die offene Vordertür in den Flur des Büros und machen den Weg unpassierbar. Um zu verhindern, dass Mitarbeiter sich durch Sprünge aus den Fenstern retten, wird der harte Asphaltboden vor dem Gebäude durch eine große Lache an brennendem Benzin noch unangenehmer gestaltet. Einem der Angreifer gelingt es dabei, seine Sturmhaube in Brand zu setzen. Er reißt sie ab – und blickt einer verstörten Putzfrau ins Gesicht, die gerade aus dem Gebäude rennt. Beide bleiben starr vor Schreck stehen. Als er gerade die MP5 heben will, wird er von einem seiner Kumpane in den Kleinbus gestoßen. Ein anderer will die Putzfrau erschießen, doch ein dritter ruft: „Nein! Sie ist unschuldig“. Er lässt die Waffe ein Stück sinken, wirft die Putzfrau um und verabreicht ihr eine Spritze. Zum Rest des Dorfes verdeckt inzwischen eine dicke Rauchwand die Sicht, welche mit einigen Nebelkerzen erzeugt wurde, um Schaulustige fernzuhalten. Wenige Minuten nach Begin des Angriffs fährt der Kleinbus ab.

Weder Fest- noch Handynetze funktionieren. Das Festnetz ist völlig tot, über das Handynetz kommt einfach keine Verbindung zustande, obwohl ein Signal angezeigt wird. Ein Dorfbewohner fährt Richtung Feuerwache, um Hilfe zu holen, doch er fährt beinahe in eine große Unfallstelle hinein. Mehrere Fahrzeuge blockieren die Straße. Neben dem unscheinbaren Kasten, den die Angreifer an den Straßenrand gestellt hatten, erstreckt sich ein Nagelband quer über die Straße. Verzweifelt versucht er, mit dem Handy die Feuerwehr zu rufen, vergeblich.

Das Callcenter war einer der Hauptarbeitgeber des Dorfes. Ein tapferer Fahrer ist fest entschlossen, die Mörder, die für den Tod von zahlreichen seiner Nachbarn verantwortlich sind, nicht einfach so davonkommen zu lassen. Er fährt dem Kleinbus hinterher, bis die Heckklappe plötzlich aufgeht und er in die Läufe zweier MP5s schaut. Er tritt auf die Bremse. Er weiß, dass er keine Chance hat. Vor Wut schlägt er aufs Lenkrad und trifft die Hupe. Er versucht, über Handy Hilfe zu holen, doch auch hier schlägt die Verbindung fehl. Aus dem Kleinbus hagelt der Inhalt eines Pappkartons auf die Straße: 250 militärische Krähenfüße. Ein weiterer Autofahrer aus dem Dorf, der hofft, in der anderen Richtung Hilfe zu finden, beendet seine Fahrt unsanft in Straßengraben.

Aufgeregte Nachbarn klingeln den Schüler, der bis tief in die Nacht virtuelle Terroristen gejagt hat, aus dem Bett. Mit ein paar Worten erklären sie ihm die Situation. Er klettert so schnell er kann auf den Dachboden, schließt die Klemme seines selbstgelöteten Amateurfunkgeräts an eine Autobatterie an – und hört nur ein lautes Quietschen von einem breitbandigen Störsender, der wohl auf den Feuerwehrfunk ausgerichtet ist. Er legt einen Schalter um und fängt an zu morsen: dididitdadadadididit dididitdadadadididit. Zweimal SOS, dann folgt die Nachricht. Trotz der Fehler, die er durch Müdigkeit und Aufregung einbaut, versteht ein anderer Amateurfunker in 70 km Entfernung die Nachricht und ruft die 112 an. Wertvolle Minuten vergehen, bis der Alarm an die richtige Feuerwache weitergeleitet wird.

Als die Feuerwehr kurz vor dem Dorf steht, versperren ihr mehrere Autos mit zerstörten Reifen den Weg. Die Feuerwehrmänner wollen per Funk Verstärkung aus dem Nachbardorf anfordern, doch auch ihre Funkverbindung ist gestört. Sie schieben die Fahrzeuge beiseite, als sie jedoch den Nagelstreifen entfernen wollen, werden sie überrascht, als der kleine Kasten am Straßenrand in Flammen aufgeht. Einer der Feuerwehrmänner will löschen, doch ein anderer erkennt, dass es sich um Thermit handelt und hält ihn zurück. Sie räumen die Fahrzeuge weg, warten, bis das Thermit ausgebrannt ist, löschen den kleinen Brand, der dabei entstanden ist, und fahren zum Dorf. Das Callcenter steht kurz vor dem Einsturz. Die Feuerwehmänner schaffen es gerade so, ein Übergreifen der Flammen auf die zum Glück in großzügig bemessenem Abstand stehenden Nachbargebäude zu verhindern. Kein einziger Mitarbeiter des Callcenters hat den Anschlag überlebt. Das Gebäude ist teilweise zusammengebrochen und muss abgerissen werden.

An einer Straßensperre kurz vor dem nächsten Dorf hält ein weißer Kleinbus mit einem Telekom-Logo. Dem Fahrer steht der Schrecken ins Gesicht geschrieben, er springt vor der Straßensperre aus dem Fahrzeug, läuft auf die Polizisten zu und ruft: „Helfen Sie uns. Wir haben gerade an einem Verteiler arbeiten wollen, da ist er plötzlich in Flammen aufgegangen. Ständig Schüsse. Und dieser Rauch – überall!“. Ein Beamter geht vor, versucht, den Fahrer zu beruhigen und bugsiert ihn zurück in sein Fahrzeug. Er bittet ihn, sich am nächsten Tag bei der Polizeidienststelle als Zeuge zu melden, und jetzt erst mal weiterzufahren, um den Weg für die Feuerwehr freizumachen. Der Fahrer beruhigt sich etwas, die Polizeifahrzeuge fahren zur Seite, der Fahrer fährt durch und hält sich möglichst weit rechts, um die entgegenkommende Feuerwehr durchzulassen. Kaum ist der Wagen etwas von der Straßensperre entfernt, grinst der Fahrer, sagt „puh, wir sind durch“ und reißt sich die Gummimaske vom Gesicht. Hinten im Laderaum knallt ein Sektkorken.

Das vor der Kirche aus dem Boden schießende Feuer wurde zwar von vielen Gläubigen zunächst als ein Zeichen gewertet, dass zur Strafe für das Callcenter der Teufel nun das ganze Dorf holen würde, ein zufällig vorbeigehender Chemiestudent, der in den Semesterferien bei seinen Großeltern zu Besuch war, erkannte jedoch die Situation. Er hielt einen eifrigen alten Mann, der mit einem Wassereimer kam, zurück und brachte die Umstehenden dazu, das vermeintliche Tor zur Hölle einfach mit trockenem Sand zuzuschütten, damit nach dem Ausbrennen des Thermits dabei entstandene Sekundärbrände keine Luft bekämen. Auch als dann plötzlich an der Kirchenwand eine Flamme entsteht, wird diese schnell gebändigt. Das Telefonnetz wird wenige Wochen später wieder aufgebaut, ein Callcenter wird in diesem Dorf aber nie wieder entstehen.

Als die Putzfrau mehrere Stunden nach dem Anschlag hinter ein paar Mülltonnen unsanft von einer Ratte geweckt wird, erinnert sie sich an nichts.

Epilog

In einer Garage wird das markante T-Com-Logo vom Kleinbus abgezogen, die Nummernschilder und Reifen werden gewechselt und der Laderaum wird gründlich gesäubert. Dann wird das Auto mit eingestecktem Zündschlüssel in der Nähe der polnischen Grenze abgestellt.

Der Besitzer der Firma, die das Callcenter beauftragt hat, findet ein angesengtes Stoppschild in seinem Bett, welches vor dem Callcenter offenbar fehlt. Er begreift und lernt, und mit ihm lernen viele andere.

Die Angreifer veröffentlichen diesmal kein Video. Die Videos von Schaulustigen bleiben selbst auf den einschlägigen Videoportalen nicht lange bestehen. In anderen Ländern häufen sich Drohungen und Angriffe gegen Callcenter.

Auch die letzten Outbound-Callcenter in Deutschland schließen – die Probleme, passende Räume, Mitarbeiter, Telefonleitungen und Auftraggeber zu finden, machen das Geschäft sehr unrentabel, die Angst, eines Tages von einer Gestalt mit Sturmhaube geweckt zu werden, tut ihr Übriges.

Einige wenige Unternehmen setzen darauf, ihre Outbound-Callcenter-Geschäfte ins Ausland zu verlagern, aber nach einer tagelangen Unterbrechung des Untersee-Tiefseekabels nach Indien verhindern ausländische Provider, dass sich Outbound-Callcenter in ihrem Netz ansiedeln. Aber nachdem der Besitzer einer der Auftraggeberfirmen zu einem beißenden Brandgeruch aufgewacht ist und feststellen musste, dass ihm im Schlaf die weichen Daunen seines Kopfkissens gegen verkohlte Federn ausgetauscht worden waren, ist sowieso keinem mehr nach Telefon-Werbeaktionen zumute.

Ein hellblauer Kleinbus wird aus der Asservatenkammer des BKA gebracht und verschwindet aus den Unterlagen. Niemand fragt genauer nach, vor allem nach der letzten Rundmail, in der stand, dass der vermeintliche Verlust von 50 MP5s, 6000 Schuss Munition, 100 beschusshemmenden taktischen Westen, 10 IMSI-Catchern, 5 Breitband-Störsendern, 2000 Krähenfüßen, 20 Nagelbändern, 50 Rauchgranaten und zahlreicher weiterer Gegenstände auf Mängel bei der Umstellung auf die neue Verwaltungssoftware zurückzuführen sei und unter keinen Umständen an die Presse gelangen dürfe – beim großen Thermitdiebstahl habe es die Baufirma ja auch geschafft, nichts herauskommen zu lassen, wofür die an den (ergebnislosen) Ermittlungen beteiligten BKA-Beamte ausdrücklich gelobt wurden.

In einem dunklen Kellerraum heftet der mysteriöse Mann gerade einen Kontoauszug ab, auf dem oben ein dicker Geldeingang zu verzeichnen ist – der Beamtensold für seine Führungsposition beim BKA.